Rheinischer Merkur  vom 5.1.2006, S. 24

War Darwin unfehlbar?

Die Evolutionstheorien geniessen so etwas wie eingebaute Vorfahrt.
Das erschwert einen offenen Austausch. Doch Kritik muss möglich sein.

von Siegfried Scherer

Die Evolutionsbiologie ist faszinierend und bietet eine schlüssige Erklärung für experimentell gut erforschte mikroevolutive Vorgänge wie Variation und Artbildung bis hin zur Gattungsbildung. Sie hat wesentlich zum Verständnis des Lebendigen beigetragen: die Fähigkeit zur Evolution im Sinne von Varia-bilität und Anpassung erweist sich als Kennzeichen allen Lebens. Auch das erdgeschichtlich geordnete Auftreten von Fossilien lässt sich gut im Rahmen von Evolution interpretieren, doch Makroevolution als vergangener, niemals wiederholbarer Vorgang ist nicht testbar, sondern ist nur indirekt durch Indizi-en erschließbar.

Andererseits sind grundsätzliche Fragen der Evolutionstheorie bis heute un-beantwortet. Ein Beispiel ist die trotz jahrzehntelanger Forschung völlig unge-klärte Entstehung einer primitiven Urzelle, die nach experimentellen Daten über weit mehr als 100 Proteine, Nukleinsäuren plus Codierungssystem und Zellhülle verfügen musste. Für deren Bildung ist ein molekularer Mechanis-mus nicht einmal in Ansätzen in Sicht. Eine Grundvoraussetzung für Makro-evolution ist die Entstehung hochkomplexer molekularer Maschinen der Zelle aus primitiven Vorstufen. Diese ist durch die Evolutionsmechanismen Mutati-on, Selektion, Gendrift u.a. in kleinen Schritten auf genetischer Basis bisher nicht erklärt. Vielleicht werden diese Probleme gelöst? Doch wenn das nicht der Fall sein sollte? Ist die Option überhaupt offen, dass der Fortschritt der Wissenschaft die ungelösten Fragen bezüglich des Ursprungs und der Ent-wicklung des Lebens vergrößern statt verkleinern könnte?

Kompetente Kritik benennt Schwachpunkte einer Theorie und ist damit eine Voraussetzung für wissenschaftlichen Fortschritt. Wissenschaftliche Kritik der Evolutionstheorie fördert deshalb die Evolutionsforschung. Allerdings muss und kann naturwissenschaftliche Kritik von weltanschaulichen Aspekten sorg-fältig getrennt werden, es wäre bedenklich, wenn evolutionskritische Argu-mente als Gottesbeweise missverstanden würden.

Evolutionstheorie oder Evolutionismus?

Problematisch ist nicht die Evolutionstheorie als Deutungsmöglichkeit von Daten, sondern ein daraus abgeleiteter Monopolanspruch für Weltdeutung. So verkündet Daniel Dennett (Spiegel, 24.12.2005) den Tod Gottes als Kon-sequenz aus Darwins Lehre, auch die Religionen seien „das Produkt evolutio-närer Algorithmen“. Ulrich Kutschera meint, die Katholiken könnten die na-turalistische Denkweise der modernen Evolutionstheorie niemals akzeptieren, weil sie als Konsequenz ihre Glaubensbasis aufgeben müssten. Sollte die Evolutionstheorie bei solch weit reichenden Konsequenzen nicht immer wie-der und besonders kritisch auf naturwissenschaftlicher und philosophischer Ebene überprüft werden? Doch das ist selten. Beispielsweise wird die aus-schließlich naturwissenschaftliche Würdigung und Kritik der Evolutionstheo-rie in „Evolution – ein kritisches Lehrbuch“ (2006, Weyel-Verlag, Giessen) meist ignoriert, obwohl sie 90% des Buches umfasst. Ein Hinweis auf das konservative Bibelverständnis der Autoren genügt, um den Diskurs auf der Sachebene erst gar nicht zu eröffnen. Es scheint, dass ernsthafte Kritik an der Evolutionstheorie tiefes Unbehagen auslöst. Wird die Evolutionstheorie aber vor fundamentaler Kritik geschützt, gerät sie am Ende in den Status der Unfehlbarkeit, mutiert zum Evolutionismus und wird als Religionsersatz missbraucht.

Kritische Anmerkungen zum amerikanischen Kreationismus

Der klassische Kreationismus aus Amerika sieht im Schöpfungsbericht natur-wissenschaftlich direkt relevante Aussagen (astronomisch-geologisch-biolog-isches Verständnis). Beispielsweise wird ein junges Alter des Univer-sums, die „Tatsache der Schöpfung“ sowie die Bildung von fast allen geologischen Formationen innerhalb eines einzigen Jahres durch die Sintflut für wissen-schaftlich sehr gut begründet angesehen. Eine solche Einschätzung ist m.E. nur durch Ausblendung „unpassender“ astrophysikalischer und geologisch-er Daten möglich, deren überzeugende Deutung im Rahmen eines Welt-alters von nur 10 000 Jahren schwer fällt.

In den USA wollen extreme Strömungen die Evolutionsbiologie aus dem Bio-logieunterricht verbannen, dazu kommt zuweilen eine wissenschaftsfeind-liche Ablehnung der öffentlichen Finanzierung evolutionsbiologischer Forsch-ung, und wenn Evolutionsbiologen dann auch noch Ignoranz oder Wissen-schaftsfälschung unterstellt wird, ist das Ganze kaum noch erträglich. Eines meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeitsgebiete ist Taxonomie und Evolut-ion, ich kann verstehen, dass amerikanische Kollegen in den USA gegen Ver-botsversuche und entsprechende politische Einflussnahme Sturm laufen.

Der Kreationismus erhebt einen Absolutheitsanspruch auf ein bestimmtes Verständnis des Schöpfungsberichtes. Doch unter Christen gibt es nun ein-mal verschiedene Zugänge zu den biblischen Texten, auch in Bezug auf die Evolutionstheorie, und Christ wird man nicht durch den Glauben an eine Sechs-Tage-Schöpfung. Die meisten Christen nehmen an, dass der Schöpfer durch den Evolutionsprozess geschaffen hat, wobei dieser Glaube unter-schiedlich gefüllt wird. Theologische Absolutheitsansprüche führen nicht weiter, nur der wertschätzende, sachlich-theologische Diskurs ist hilfreich.

Schöpfungslehren

Früher stand ich dem Kreationismus nahe, heute vertrete ich eine neutesta-mentliche Schöpfungslehre. Es geht nicht um ein naturwissenschaftliches Verständnis der Genesis, sondern um die Heilslehre des Neuen Testamen-tes: Christus und das Paradies, Sünde und Erlösung, die Ursache für Sterben und Leid, die Hoffnung auf eine neue Schöpfung (Römer 5; Offenbarung 21,1-4). Diese konservative Theologie steht im spannungsvollen Widerspruch zur Evolutionstheorie. Können wissenschaftliche Daten alternativ im Sinne von Schöpfungslehren gedeutet werden? Dabei wird Offenbarung voraus-gesetzt, deshalb kann eine Schöpfungslehre im Gesamten niemals eine wissenschaftliche Theorie sein. Schöpfungslehren gehören daher in den Religions-, und nicht in den naturkundlichen Unterricht. Stimmen wissen-schaftliche Daten und Schöpfungslehre überein, ist das kein „Beweis“ für die deren Richtigkeit. Befinden sie sich im Widerspruch, muss dies aufgrund wissenschaftlicher Redlichkeit offen gelegt werden, die Ausblendung wissen-schaftlicher Befunde wäre ideologisch. Während sich viele biologische Daten im Denkrahmen einer Schöpfungslehre befriedigend deuten lassen, gibt es hinsichtlich der Erdgeschichte allerdings sehr viel mehr Fragen als Antworten.

Jeder kann irren

Sowohl Evolutionstheorie als auch Schöpfungsanschauung sind ideologisch missbraucht worden. Anzeichen für Ideologisierung sind Ausblendung wis-senschaftlicher Daten, Verhinderung von Kritik, Absolutheitsansprüche, Verbotsversuche jeder Art, Polemik oder Kritik an der Person statt an der Sache. Da hilft nur die Rückkehr zu einem zwar kontroversen, aber sach-lichen und informierten Diskurs.

Evolutionsbiologie kann man als Christ, als Moslem, als Agnostiker oder als Atheist betreiben, auf der rein empirischen Ebene wird man zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Das ist eine tragfähige Gesprächsbasis. Allerdings kann man naturwissenschaftliche Daten hinsichtlich der Entstehung und Geschichte des Lebens, abhängig von weltanschaulichen Grundüberzeug-ungen, unterschiedlich deuten. Es wäre viel gewonnen, wenn das nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung aufgefasst würde.

Bei der Beantwortung von fundamentalen Herkunfts- und Sinnfragen wäre auch eine gewisse Zurückhaltung angebracht. Schließlich war keiner von uns dabei, als das Leben ins Dasein kam, und jeder könnte irren. Deshalb ist es gut, dass Weltdeutungen keine eingebaute Vorfahrt haben.

(c) by Siegfried Scherer