Programmatisches Vorwort zur 6. Auflage
Evolutionsforschung: Die Königsdisziplin der Biologie. Nichts
in der Biologie ergibt einen Sinn außer im Licht der Evolution.
Dieser häufig zitierte Aufsatztitel stammt von dem berühmten
Evolutionsbiologen Theodosius DOB-ZHANSKI.1 Auch WEHNER & GEHRING2 sprechen
für viele Biologen, wenn sie schreiben: Zahlreiche Befunde
liefern derart eindeutige Belege für den Ablauf von Evolutionsprozessen,
daß heute niemand, der naturwissenschaftlichen Argumenten zugänglich
ist, am generellen Faktum Evolution noch Zweifel hegen kann.
Mikro-evolutive Prozesse sind in der Tat vielfach aus natürlichen
Variations- und Artbildungsprozessen bekannt, und ihre Erforschung durch
die Evolutionsbiologie ergab grundlegende Einsichten in die geniale
Anpassungsfähigkeit lebender Systeme. Deshalb wissen wir heute, dass
Evolvierbarkeit im Sinne von Mikroevolution (-> II.4.3) eine
fundamentale Eigenschaft des Lebens ist. Es ist ein erstes Anliegen
dieses Buches, diese Forschungsergebnisse und die wissenschaftlichen Leistungen
der daran beteiligten Evolutionsbiologen zu würdigen. Die in diesem
Buch vorgebrachte Kritik von Makroevolutionshypothesen relativiert dieses
Anliegen keineswegs.
Weil fast alle biologischen Disziplinen zur Analyse von Evolutionsprozessen
beitragen und weil die Suche nach dem Ursprung des Lebens eine der
fundamentalsten Fragen nicht nur der Biologie, sondern auch des Menschen
ist, darf man Ursprungsforschung und dazu gehört die gesamte
Evolutionsforschung mit Fug und Recht als die Königsdisziplin
der Biologie bezeichnen.
Kritische Diskussion als Kennzeichen von Wissenschaft. Die
überwältigende Mehrheit der Biologen ist der festen Überzeugung,
dass die beobachtbaren mikroevolutiven Prozesse schließlich zur
Makroevolution führten, also eine ausreichende Erklärung dafür
liefern, dass alle Lebewesen aus Einzellern in einem historischen,
natürlich verursachten Evolutionsprozess hervorgegangen sind. Unseres
Erachtens existieren jedoch zahlreiche Befunde, die dieser Auffassung
widersprechen.
Die mediale Vermarktung der Ursprungsfragen hat der
Öffentlichkeit ein einseitiges Bild vermittelt: Eine allgemeine Evolution
der Lebewesen sei so sicher, dass Kritik daran geradezu ein Symptom für
Wissenschaftsfeindlichkeit sei. Das erscheint paradox, denn sachliche Kritik
gehört zum Kern wissenschaftlichen Arbeitens; wo sie unterdrückt
wird, steht Wissenschaft in der Gefahr, zur Ideologie zu werden. Einseitige
Denkansätze und Diskussionsverbote jeder Art sind selbständigem,
kritischem Denken abträglich. Die sachliche Diskussion verschiedener
Aspekte weitet dagegen den Blick und fördert kreatives Denken. Es ist
für eine fruchtbare Diskussion wichtig, zu unterscheiden zwischen einem
Evolutionismus, der mit Absolutheitsanspruch als Weltanschauung auftritt,
und Evolutionstheorien3 als wissenschaftliche Ansätze, die Geschichte
des Lebens zu verstehen. Der Evolutionismus immunisiert sich gegen Kritik,
wissenschaftliche Evolutionstheorien sind dagegen für wissenschaftliche
Kritik offen.
Aus dieser Situation ergibt sich ein zweites Hauptanliegen dieses
Buches: Weithin unbekannte Deutungsprobleme und offene Fragen von
Evolutionstheorien werden systematisch thematisiert. Sie haben nach unserer
Auffassung ein so großes Gewicht, dass Makroevolution als nicht mehr
hinterfragbare Leitvorstellung (-> II.4.3) ernsthaft geprüft und
nicht als Tatsache vorausgesetzt werden sollte.
Grenzüberschreitungen sind unumgänglich. Ursprungslehren
kommen nicht umhin, Grenzüberschreitungen vorzunehmen, wenn sie Aussagen
über die Geschichte des Lebens als Ganze machen wollen. Das gilt
gleichermaßen für den Naturalismus, der die naturwissenschaftlich
erforschbare Welt mit der Realität schlechthin gleichsetzt, wie für
Schöpfungslehren, die Bezug auf Offenbarung nehmen (-> I.3; VII.16).
Es ist den Autoren dieses Buches ein drittes Anliegen,
Grenzüberschreitungen in den weltanschaulichen Bereich kenntlich zu
machen. Dies geschieht in den Teilen I-VI durch entsprechend gekennzeichnete
Textkästen. Teil VII widmet sich Deutungsweisen unter der Vorgabe von
Schöpfung explizit. Dieser Deutungsansatz, dessen naturwissenschaftliche
Probleme nicht verschwiegen werden, liefert u.E. auch fruchtbare Ansätze
im Bereich experimenteller Forschung (vgl. S. 318).
Evolution und Weltanschauung. Die Evolutionslehre3 als Gesamtentwurf
der Geschichte der Lebewesen berührt unweigerlich zentrale
naturwissenschaftliche, philosophische und weltanschauliche Themen. Wer nach
dem Ursprung der Welt, des Lebens und des Menschen fragt, muss zwischen
unterschiedlichen weltanschaulichen Vorstellungen wählen. Alle
möglichen Antworten beinhalten Glaubensentscheidungen und bestimmen
Welt- und Menschenbild; daraus ergeben sich weit reichende Konsequenzen für
das Selbstverständnis des Menschen und sein Handeln.
Vor diesem Hintergrund ist eine kritische Analyse der vorliegenden
naturwissenschaftlichen Daten von ganz besonderer Bedeutung. Wir erheben
dabei keinen Anspruch auf Endgültigkeit, als Autoren sind wir uns der
Begrenztheit unseres (persönlichen) Wissens bewusst und an manchen Stellen
mögen wir irren. Für inhaltliche Kritik sind wir deshalb dankbar.
Es ist unser Wunsch, dass dieses Buch bei aller Vorläufigkeit zu einer
wissenschaftlich orientierten, kontroversen Auseinandersetzung beiträgt.
Baiersbronn und Freising, im Juli 2006
Reinhard Junker
Siegfried Scherer
1 DOBZHANSKY T (1973) Nothing in biology makes sense except in the
light of evolution. American Biology Teacher 35, 125-129.
2 WEHNER R & GEHRING W (1995) Zoologie. Stuttgart, S. 551.
3 Wir verwenden für die nicht näher spezifizierte Auffassung
von einer allgemeinen Abstammung aller Lebewesen und ihrer Entfaltung durch
ausschließlich natürliche Prozesse den Begriff
Evolutionslehre als Sammelbegriff (vgl. I.1.3 und Kasten S. 47).
Im Rahmen dieser Anschauung werden verschiedene speziellere Evolutionstheorien
über Mechanismen und Abläufe diskutiert.
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